Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf by Lorenz Richard

Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf by Lorenz Richard

Autor:Lorenz, Richard [Lorenz, Richard]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Mystery
Herausgeber: hey! publishing Verlag
veröffentlicht: 2013-10-30T23:00:00+00:00


Drei Tage vor Allerheiligen

Herbst 1973

Die ersten Gewitter des Herbstes zogen über die Stadt. Während die alten Männer vom ersten Schnee sprachen (sein Kommen konnten sie in ihren Gelenken spüren), ging Murr am späten Nachmittag, so wie jeden Tag, hinunter zum Kinderland. Jeder wusste davon, aber niemand hatte ihn je nach den Gründen gefragt. Natürlich gab es allerlei Vermutungen und Gerüchte, schließlich war dies eine kleine Stadt, über welche sich die Dunkelheit unauffällig legen konnte. Sein eigenes Kind hätte Murr dort hingebracht, hieß es, einen nur wenige Wochen alten Säugling. Andere erzählten, er würde dort um Mitternacht nach vertrockneten Kinderherzen suchen, wieder andere schüttelten nur ihre Köpfe und sagten: Der ist verrückt, das ist alles. Erzählungen, die man an Wintertagen in kalt gewordenen Küchen flüsterte, sobald es wieder einen der zahlreichen Stromausfälle gab. Die Überlandleitungen waren alt und die Stürme tosend. Vor einigen Jahren war der Strom einmal über drei Wochen ausgefallen. Dann erst kamen Techniker aus München, um alles wieder in Ordnung zu bringen, und dann erst fand man die alte Lehrerin Erlinger tot in ihrem Wohnzimmersessel.

Drei Tage vor Allerheiligen, kalte Ostwinde wirbelten, ging Murr also abermals zu den Bachausläufen in der Senke, ausgespült von Regenfällen, ausgehöhlt von den Hochwassern der letzten Jahre. Die Bäume hier unten waren krank, ihre Äste dürr. Ein Ort mit dichtem Unterholz, den alte Hunde zum Sterben aufsuchten, wo angefahrene Katzen verendeten, ihre zerquetschten Beine nach sich ziehend.

Sein Vater Johann Murr, ein untersetzter Mann mit wenig Haaren auf dem Kopf, war mit ihm beinahe jeden Tag hier gewesen, in einer fernen Kindheit, trübe und verhangen. Damals war der lehmige Boden noch fester, die Bäume noch höher und die Bachrinnen voller. Alles war ein wenig anders, wenn auch nicht besser.

Sein Vater war krank im Kopf gewesen, geradeso wie es Murrs eigene Frau jetzt war. Sie saß oben im Haus und blickte auf ihn hernieder, die Hände verschränkt, betend zu ihrem eigenen Gott.

Eine gute Stadt für Menschen, in deren Kopf eine Krankheit nistet, von der man noch nie gehört hat, dachte Murr, als er sich einen Weg durchs Dickicht bahnte. Werwölfe, die am Sonntag Morgen in die Kirche gingen, um anschließend ihre Kinder zu vergessen, solange, bis sie Fremde wurden. Jeder weiß, was man in dieser Stadt mit Fremden macht.

»Die Judenkindlein, die Judenkindlein«, hatte sein Vater damals gemurmelt, sein Gesicht fiebrig, die Hand seines kleinen Sohnes fest umschließend.

»Ja«, hatte er geflüstert, hilflos, voller Furcht vor dem, was sein Vater dachte .

»Fliegen in den Himmel, hinauf. Ganz weit hinauf. In den Judenhimmel.«

»Ja.«

Neben ihnen das kleine Holzwägelchen, mit dem manchmal Zigaretten ausgefahren wurden, von der Fabrik seines Vaters in die Häuser der Leute. Früher hatte er damit gespielt, war den kleinen Abhang zu den Obstbäumen hinuntergefahren. Nun lag ein totes Kind, ein Mädchen, darauf. Die Augen offen, ebenso der Mund. Ein dunkles Mal umrundete den Hals, und auf dem noch warmen Körper lag eine Schaufel mit schmutzigem Stiel und rostigem Maul.

»Häng dich an sie, häng dich an sie«, hatte ihm sein Vater vor nicht einmal einer halben Stunde befohlen. Die Stimme ruhig, bestimmt.



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